
DER VERPACKUNGSVERWENDER
Selbstdrehende: Wir schaffen uns ab!
Die Menschheit ist auf keinem guten Weg – ich habe an dieser Stelle schon einige Male darüber geschrieben. Neulich las ich etwas, das mich mal wieder nachhaltig beunruhigte. Es geht um Marmelade. Genauer: um ein Marmeladenglas. Ja, richtig gelesen. Aber nicht irgendeins. Dieses Glas ist in der Lage, sich selbst zu verwalten. Man löffelt ein wenig Erdbeermarmelade heraus, legt den Deckel locker wieder obenauf – und zack, nach ein paar Sekunden macht es „klack“ und der Deckel sitzt wie von Geisterhand wieder fest. Verpackungskünstler nennen das Fortschritt. Für mich klingt es nach einem unverschämten Übergriff. Denn wenn selbst die Marmelade demnächst ihren eigenen Deckel zudreht – wozu braucht man dann noch mich?

Früher war das Zudrehen eines Marmeladenglases eine Tätigkeit mit hoher Symbolkraft. Man tat etwas Nützliches für den Haushalt, eine Art Miniaturheldenleistung des Alltags. Jetzt stiehlt mir ein Stück Verpackungsdesign diesen Moment. Womöglich ist es der erste Schritt in eine Welt, in der ich beim Frühstück nur noch zuschaue, wie sich Brötchen von selbst aufschneiden, Kaffee eigenständig mahlt und die Spülmaschine nicht nur das Geschirr abwäscht, sondern auch einräumt.

Und es bleibt ja nicht bei der Marmelade. Die Industrie hat längst den nächsten Angriff auf unsere Selbstwirksamkeit gestartet: selbstverschließende Kappen. Zum Beispiel bei Milchbeuteln in Kantinen. Man zapft sich ein Glas Milch, lässt den Hebel los – und bevor man „Kleckerschutz“ sagen kann, ist das Ding von allein wieder dicht. Die Kappe macht den Job einfach selbst. Ich frage mich: Wie lange wird es noch dauern, bis die Flaschen in meinem Kühlschrank hinter meinem Rücken Konferenzen abhalten, um zu erörtern, ob ich heute noch eine Ration Orangensaft bekomme?
Das vielleicht raffinierteste Beispiel dieser neuen Weltordnung ist jedoch ein unscheinbares Stück Verpackungstechnik namens Burgopak. Falls Sie davon noch nichts gehört haben: Der Burgopak ist eine Art Jacques Tati der Verpackung. Man zieht – und auf der anderen Seite geschieht ein kleines Wunder, wie von einem unsichtbaren Bühnenarbeiter gesteuert. Beim Zurückschieben schließt sich alles wieder wie von selbst, als hätte dies ein diskreter Hotelpage erledigt, der dafür sorgt, dass das Bett immer gemacht ist, bevor man zurückkommt. Es ist Verpackung als Bühnenshow, als Zaubertrick – und natürlich wieder etwas, das ganz ohne mein Zutun funktioniert. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht einmal verstehe, wie dieser Burgo-Butler funktioniert.
Ich könnte das jetzt als Fortschritt feiern: mehr Bequemlichkeit, mehr Hygiene, weniger Kleckerei. Aber irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass wir bald gar nichts mehr selbst machen müssen. Heute das Marmeladenglas, morgen vielleicht der Kühlschrank, der selbst entscheidet, was gut für mich ist, übermorgen die Wohnung, die sich eigenmächtig aufräumt – aber meine schmutzige Kaffeetasse „aus pädagogischen Gründen“ demonstrativ stehen lässt. Wenn die letzte manuelle Handlung, die uns noch bleibt, das Scrollen auf dem Smartphone ist – und selbst das vermutlich bald durch Blicksteuerung ersetzt wird –, dann haben wir irgendwann das Level „Couch-Potato 3000“ erreicht. Wir sitzen dann da, in smarten Häusern, essen smart portionierte Mahlzeiten aus smart verschlossenen Packungen, und die einzige Muskelbewegung, die wir noch trainieren, ist das Stirnrunzeln, wenn das selbstschließende Marmeladenglas plötzlich beschließt, dass es jetzt aber wirklich zu bleibt. Nur zu unserem Besten. Wirklich?

Harald Braun ist kein Verpackungsentwickler, kein Marketingstratege, kein Recyclingprofi – er ist Verpackungsverwender. Nicht mehr und nicht weniger. Und genau das macht seine Perspektive so wertvoll: ungeschönt, direkt und voller Alltagsbeobachtungen.
In seiner Kolumne „Verpacken wir’s an“ schildert er sehr persönliche Erlebnisse mit Schachteln, Folien, Deckeln und allem, was Produkte umhüllt. Mal herrlich komisch, mal mit feinem Seitenhieb, immer aus der Sicht eines Konsumenten.
Wer Verpackung herstellt, gestaltet oder verkauft, bekommt so einen erfrischenden Blick von außen – und im besten Fall auch ein Schmunzeln.