Neue Lebensmittel = neues Design? Der EU-Änderungsantrag 171 will pflanzlichen Milchalternativen Anspielungen auf Milch verbieten. Gleichzeitig orientieren sich Verbraucher im Supermarkt an Design-Codes, die sie vom tierischen Produkt her kennen. Für Marken heißt es deshalb, diese Gewohnheiten zu durchbrechen und mit innovativen Designlösungen eine neue Balance zwischen Gelerntem und Unerwartetem zu schaffen.
Was wir heute als Brand Codes von Lebensmittelmarken bezeichnen, kannten bereits unsere Vorfahren: Die leuchtenden Farben, der köstliche Geruch, die Haptik von Früchten und Beeren gaben Hinweise, ob sie reif sind. Im Supermarkt gelten ähnliche Regeln, und Menschen treffen ihre Auswahl nach vielen naturgegebenen Codes. Gleichzeitig orientieren sie sich an Systemen, die die Industrie etabliert hat. Auf der Suche nach Milch schauen Verbraucher nach der Bezeichnung „Milch“, nach Abbildungen von Kühen, Wiesen, den Farben Weiß, Blau und Grün. Und dass Milch oft im Karton daherkommt, weiß sowieso jedes Kind. Wo sie steht, auch. Darauf kann man blind vertrauen. Die gelernten Hinweise leiten uns so sicher durch die Regale wie Google Maps durch Städte.
Auf der Suche nach einem Milchersatzprodukt gehen Verbraucher ähnlich vor. Noch! Denn dass Hafer-Drinks keine Milch enthalten und deshalb nicht als „Milch“ bezeichnet werden dürfen, daran hat man sich gewöhnt. Der EU-Änderungsantrag 171 geht nun einen Schritt weiter: Er will jegliche „Nachahmung oder Anspielung“ auf Milch verbieten. Es darf also nicht die geringste Assoziation mit dem tierischen Produkt entstehen. Das beinhaltet auch Bezeichnungen wie „keine Milch“ und „Milchalternative“. Auch sind die Befürchtungen groß, dass selbst Abbildungen von weißen Getränken in einem Glas oder der Karton auf den Prüfstand kommen.
Verpackungsdesign von Milchersatzprodukten: Entschlossen neue Codes prägen
Neue Regularien versetzen der Entwicklung pflanzlicher Lebensmittel immer wieder einen Seitenhieb. Schaut man genauer hin, können sie nicht nur Hürde, sondern auch Chance sein. Denn Tatsache ist: Hersteller pflanzlicher Produkte müssen so oder so tief in die Trickkiste greifen, um sich erfolgreich zu positionieren. Aktuell kommen so viele neue Produkte in unsere Regale, dass es für Verbraucher immer schwieriger wird, schnell das Richtige zu finden. Einige Marken haben das erkannt, haben eine Balance zwischen gelernten und unerwarteten Design-Codes geschaffen und für die Industrie neue Maßstäbe gesetzt.
Es steht mehr drauf, als drin ist
Wie machen Sie auf dem Produkt deutlich, was Verbraucher davon erwarten können? Auf einen pflanzlichen Drink würden Sie vielleicht „Hafer-Drink“ schreiben. Konservativere, preisorientierte Verbraucher halten genau danach Ausschau.
Für diejenigen, die Lebensmittel nach ihrem Lebensstil wählen und etwas radikal Neues erwarten, braucht es schon etwas mehr. Markennamen wie „Oatly“ und „Nilk“ fallen da sofort ins Auge, vor allem, weil sie mit strengen Regularien kreativ umzugehen wissen.
Neben dem Produktnamen dürfen Marken auch die Wirkung von Nebentexten nicht unterschätzen. Für eine Informationsflut ohne Stimmung hat der Verbraucher schlichtweg keinen Nerv. Wird er dabei unterhalten, wird Lesezeit zur Quality Time. Der Tonfall macht den entscheidenden Unterschied. Die Nebentexte von Oatly sind zum Beispiel eines der größten Alleinstellungsmerkmale der Marke. Ihre Back-of-Pack-Texte sind kantig, unterhaltsam – sie involvieren und motivieren.
Die Marke Innocent zeigt dabei perfekt, wie Marken auch in Lifestyle-Themen stark verwurzelt sein können: sich mit seiner Wahl wohlfühlen, Gutes tun und positiv sein – Innocent spricht die Kernbedürfnisse eines großen Teils der Gesellschaft an. Das Clevere: Die Marke ist somit nicht strikt auf Fruchtsäfte beschränkt, und ihre Haltung kann auf jedes pflanzliche Getränk übertragen werden. So wird niemand danach fragen, ob der Hersteller von Smoothies auch Milchersatz kann. Beide Kategorien fühlen sich mit Innocent richtig an.
Mutige grafische Elemente treffen auf unerwartete Farben
Einige Marken sind bereits recht ausdrucksstark, was die grafische und farbliche Vielfalt auf den Packagings angeht. Statt nur das Produkt abzubilden, visualisieren sie dessen Anwendung: ab in die Kaffeetasse damit oder ins Müsli – wie man es zum Beispiel bei der Lidl-Eigenmarke Vemondo sieht. Vly geht noch weiter. Die Gestaltung weckt in Verbindung mit dem Namen beinahe Assoziationen mit einer App. Auch die Farben sind eher in der digitalen Welt zu Hause.
Weiß ist dabei trotzdem sehr präsent und beschreibt das Produkt faktisch als Milchalternative. Dieser gelernte Farbcode ist auch noch ziemlich wichtig, um den Anschluss an die Verbraucher nicht völlig zu verlieren. Und tut sich die Visualisierung doch erst einmal schwer wie ein Lebensmittel auszusehen – keine Angst! Für einige Verbraucher könnte das zwar irritierend sein. Aber es ist genau die richtige Lösung für Pioniere, die sich nach einer coolen Alternative sehnen.
Der Bruch mit Standards kann Marken einen Vorteil verschaffen
Der Karton hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aus Kostengründen in vielen Märkten als Standard für Milch etabliert. Durch eigenständige Verpackungsformen und innovative Materialien würden Milchersatzgetränke daher enorm an Aufmerksamkeit gewinnen. Zwar ist der Einsatz eines nicht standardisierten Packagings aufwendig und kostenintensiv. Doch gerade in Deutschland sind die Chancen riesig, durch Formen und Materialien unverwechselbar zu werden.
Die Milch macht’s schon vereinzelt vor. So setzt die Traditionsmarke Hemme Milch auf einen wiederverschließbaren Milchbeutel mit Griff – in primär Schwarz. Das fällt auf.
Was man vom Material ebenso behaupten darf: Der vierzigprozentige Kreideanteil im Kunststoff macht die Packung standfest und reduziert den Energieverbrauch bei seiner Herstellung. Im Vergleich zum Karton bedeutet der Beutel aber auch 60 Prozent weniger Abfallvolumen.
Bleibt man beim Thema „Nachhaltige Verpackung“, so tut sich bei Milchmarken allgemein mehr. So werden auch Einweg-Glasflaschen sukzessive durch Mehrwegflaschen ersetzt. Oder es werden Nachfüllstationen aufgestellt. Das schont die Umwelt. Ein gesellschaftlich hochrelevanter Bereich, in dem sich gerade pflanzliche Drinks positionieren. Da wäre es nur konsequent, mit nachhaltigen Verpackungslösungen milchbasierte Produkte faktisch zu überholen – und pflanzenbasierte Produkte in pflanzenbasierten Verpackungen anzubieten. Wie die US-amerikanische Danone-Marke „So Delicious Dairy Free“ zum Beispiel: Der Kunststoff ihrer Flaschen wird zu 80 Prozent aus Zuckerrohr gefertigt. Das Packaging ergibt sich damit logisch aus der Markenhaltung und macht die Marke sichtbarer.
Und darum geht es ja letztendlich: dass pflanzliche Drinks relevanter werden. Dafür braucht es mehr Mut im Packaging Design – auch ohne den Änderungsantrag 171.
Diesen Gastbeitrag zum Verpackungsdesign von Milchersatzprodukten hat Daniele Gasparini, Design Director bei der Peter Schmidt Group verfasst.